Die Akzeptanz unseres inneren Drachens
von Klaus Adolf Kreuzer
Es war eine Zeit des Wandels, als die Drachen nicht mehr nur als zerstörerische Wesen gesehen wurden, sondern auch als Hüter von Weisheit und Prüfungen. Doch in den Herzen vieler Menschen brannte noch die Angst vor diesen mythischen Kreaturen, die in den dunklen Höhlen und den höchsten Bergen hausten. Zumal und die Zeit ist ja noch gar nicht so lange her, als in der die Dunkelheit des Wissens der Menschen über das Universum, das von den Priestern und Kirchenherren auch streng bewacht wurde, dass es so blieb. Damals erfanden sie die Geschichten von den Drachen als das größte Übel, das der Menschheit begegnen konnte. Diese Drachen, so hieß es, waren Wesen, die das Geheimnis des Kosmos kannten, die Wirkungen der Natur und der Heilung und vieles mehr, diese dunklen Geheimnisse, hatte niemand zu wissen außer den sogenannten Führern der Macht. Die Kirche, in ihrer ewigen Sorge, ihre Macht zu bewahren, stellte die Drachen als die Diener der Dunkelheit dar – als die Hüter des Bösen. Die Geschichten über Drachen, die Feuer spien und das Land verwüsteten, waren tief in die kollektive Erinnerung eingeprägt. Doch tief im Inneren wussten einige, insbesondere eine Runenweise Kriegerin, Namens Carmen, die sich lange mit den Drachen beschäftigt hatte, dass diese Wesen mehr waren, als die Erzählungen es vermuten ließen.
Alleine schon die Darstellung des Drachen in der christlichen Symbolik, besonders die Bilder des Erzengels Michael, der ja auch der damalige Runengott Odin war im Kleid seiner Zeit, der den Drachen besiegte, war für Carmen nur ein Spiegelbild der Angst der Menschen vor dem Unbekannten. Michael alias Odin, der im Kampf gegen den Drachen siegte, tötete ihn nie wirklich. Vielmehr war es ein Akt der Befreiung, ein Versuch, die dunklen, chaotischen Kräfte in uns selbst zu überwinden. Der Drache, so wusste die Runenweise Kriegerin, war nicht der Feind, sondern der Prüfende, der uns auf unserem spirituellen Weg begleitete.
„Denn“, sagte Carmen, „in jedem Drachen wohnt die Kraft des Heilers und des Rächers zugleich. Der Drache trägt die Schärfe des Feuers, das alles verbrennt, was nicht rein ist, aber er kann auch die Wunden heilen, die er selbst geschlagen hat. Er ist der Wächter des Wissens, das nicht ohne Gefahr erlangt werden kann. Der wahre Drache ist nicht der, der mit Flammen und Zerstörung kommt, sondern der, der uns aufzeigt, wo wir noch Schatten in uns tragen.“
Und so begab es sich, dass Carmen immer mehr Runenweise Krieger um sich scharte um sich ihrer Angst vor dem Drachen zu stellen und immer mehr ihn als Lehrer und Führer suchten. Für sie begann eine Zeit des Wandels, in der die Runenweisen Krieger lernten, dass das Böse nicht immer das ist, was es scheint. „Die Drachen“, so sagte Carmen, „halten die Schlüssel zu den verborgenen Türen des Wissens. In der spirituellen Welt sind sie die Hüter der Schwelle, wie der große Hüter des Wissens, der auf das Schicksal der Seelen achtete. Ein Drache, der sich einem Wanderer zeigt, tut dies nicht, um ihn zu zerstören, sondern um ihn zu prüfen. Nur wer seine Ängste und Dunkelheit überwinden konnte, würde das wahre Licht erblicken.“ Carmen forderte von ihren Schülern den Mut, das Unbekannte zu umarmen, die Weisheit und die Dunkelheit zu akzeptieren und die Hingabe, das eigene Ego zu überwinden.
Trotzdem blieb die Geschichte der Drachen ein faszinierendes Rätsel für die Anderen. In den Erzählungen der Alten, die noch immer in den abgelegenen Tälern und weiten Ebenen flüsterten, hieß es, dass der Drache selbst die Wahrheit trug – eine Wahrheit, die niemals vollständig in den Händen derer liegen konnte, die nur in Licht und Dunkelheit dachten. Die wahre Weisheit lag in der Mitte, zwischen den beiden Polen, und nur derjenige, der beide Seiten des Drachen verstand – die zerstörerische und die heilende – konnte das wahre Geheimnis des Universums erlangen.
Carmen, die Runenweise Kriegerin aus einem solchen abgelegenen Tal, hatte sich ja schon lange mit den alten Drachenlegenden auseinandergesetzt und ihre Weisheit kam nicht nur aus den Geschichten, sondern aus dem Wissen um die Runen. Sie hatte in den Tiefen des Waldes die mystischen Zeichen entdeckt und wusste, dass sie eine Schlüsselrolle im Verständnis der Drachen spielen würden – nicht nur der Drachen im äußeren Reich, der durch Neid, Unwissenheit und Gier so stark wird, sondern besonders auch des Drachen, der in jedem von uns lebte.
Carmen wusste, dass der Weg zur Verständigung mit dem Drachen, sei es als äußeres Wesen oder als Symbol der eigenen inneren Konflikte und Ängste, nur durch die tiefste Weisheit und das Verständnis des Selbst führen konnte. Dazu rief sie die Runen an – jene uralten Symbole, die nicht nur die äußere Welt prägten, sondern auch die inneren Landschaften eines jeden Menschen, wenn er es zulässt. Sie wusste, dass die Drachen sowohl Zerstörer als auch Heiler waren, was sie selbst an sich Leid- und Schmerzvoll erfahren hatte und um zu einem friedvollen Dialog mit ihnen zu finden, musste man die duale Natur des Drachen verstehen und in sich selbst in Einklang bringen.
„Die Drachen sind wie die Runen“, sagte Carmen, als sie in ihrem abgelegenen Kreis von Kriegern und Suchenden ihre Weisheiten teilte. „Sie tragen in sich sowohl das Potenzial für Vernichtung als auch für Heilung. Der Weg zu ihrem Herzen führt über das Verständnis ihrer Kraft und ihrer Symbole.
Mit den folgenden fünf Runen wird es uns leichter fallen Kontakt mit unserem persönlichen Drachen aufzunehmen“ sagte Carmen und sie fingen gemeinsam an zu lernen.
Os – der Rufer des Wissens:
„Der Drache, der in den Tiefen des Wissens wohnt, verlangt zuerst unsere Bereitschaft, den Ruf des Wissens zu hören“, begann Carmen, während sie die Rune Os in die Luft malte, ein Zeichen des Kommunikationsgottes. „Diese Rune hilft uns, uns mit den Drachen der Weisheit zu verbinden. Sie öffnet unser Bewusstsein für die verborgenen Wahrheiten und macht uns empfänglich für die Prüfungen des Drachen. Wenn wir den Drachen in uns selbst rufen, tun wir dies nicht aus einer Position der Angst, sondern aus einem tiefen Bedürfnis, die Wahrheit zu suchen.“
Thorn – der Torwächter:
„Der Drache ist der Torwächter, der uns prüft, bevor wir weitergehen können“, fuhr Carmen fort, und ihre Finger tanzten auf der Luft, als sie die Rune Thorn malte, das Symbol des Thor, des Donnergottes und Hüters der Schwelle. „Diese Rune lehrt uns, dass wir uns der Kraft des Drachen stellen müssen. Sie fordert uns heraus, unsere Ängste zu konfrontieren. Es ist der Moment der Prüfung, in dem wir uns entscheiden müssen, ob wir den Drachen als Bedrohung ansehen oder als unseren Führer und Lehrer. Es ist die Rune des Runenweisen Kriegers, der nicht nur kämpft, sondern sich auch der Dunkelheit stellt und sie überwindet.“
Laf – das Wasser der Transformation:
„Doch der Drache ist nicht nur Zerstörer, sondern auch Heiler. Die Rune Laf repräsentiert das Wasser der Transformation“, sagte Carmen mit einem leichten Lächeln. „Das Wasser ist das Medium, in dem der Drache nicht nur zerstört, sondern auch heilt. Wenn wir uns mit dem Drachen verbinden, müssen wir in der Lage sein, uns von alten Mustern zu befreien, die uns binden. Laf hilft uns, durch die Tiefen unserer Emotionen zu tauchen und uns selbst zu transformieren. Der Drache, der uns prüft, kann uns auch von unseren Ängsten befreien, wenn wir uns ihm mit dem Vertrauen eines Heilers nähern.“
Bar – das neue Leben:
„Und schließlich, nachdem der Drache uns geprüft und uns mit dem Feuer des Wandels berührt hat, bringt uns Bar die Möglichkeit des Neuanfangs“, sagte Carmen mit ruhiger Stimme und zog die Rune der Birke in den Sand. „Bar ist die Rune des Lebens, des Neubeginns. Sie bringt das Potenzial für Wachstum und Erneuerung, nachdem die dunklen Kräfte uns gereinigt haben. In der Begegnung mit dem Drachen erkennen wir die Wahrheit über uns selbst, und Bar zeigt uns den Weg, wie wir diese Wahrheit in unser Leben integrieren können. Der Drache mag uns zerstören, aber er tut dies, um Raum für neues Leben zu schaffen.“
Yr – der Baum des Lebens:
„Der Drache ist auch der Hüter der Lebensenergie, der Baum des Lebens“, fügte Carmen hinzu und formte mit ihren Fingern die Rune Yr, die den Yggdrasil, den Weltenbaum, symbolisiert. „Diese Rune erinnert uns daran, dass der Drache sowohl die Quelle der Zerstörung als auch der Erneuerung ist. Der Baum des Lebens wächst aus den Ruinen des Alten. Der Drache, der die Weisheit des Universums kennt, führt uns zurück zu unserem Ursprung und zeigt uns, dass Zerstörung nur der erste Schritt auf dem Weg zur Wiedergeburt ist. Er ist der Wächter der Übergänge, der uns hilft, alte Muster abzulegen und unser wahres Selbst zu entfalten.“
Die Runenweise Kriegerin Carmen sah in die Gesichter derjenigen, die sich versammelt hatten, um ihre Weisheiten zu hören. „Wir müssen lernen, den Drachen in uns selbst zu erkennen“, sagte sie leise. „Er ist nicht nur der Zerstörer, der uns niederbrennt, sondern auch der Heiler, der uns von den Fesseln unserer Ängste befreit. Die Runen sind unsere Schlüssel, um mit ihm in Kontakt zu treten – um zu verstehen, dass der Drache sowohl unser Prüfender als auch unser Lehrer ist.“
Mit der Weisheit der Runen und dem Wissen um die Dualität des Drachen öffnete Carmen den Weg für die Anwesenden. Sie ermutigte sie, sich ihren eigenen inneren Drachen zu stellen, die Ängste und Herausforderungen zu konfrontieren und die verborgenen Weisheiten in sich selbst zu entdecken. Denn nur wer den Drachen in sich besiegte, konnte die wahre Freiheit finden.
Und so, wie in alten Zeiten, so auch heute: Die Drachen, ob real oder symbolisch, erinnern uns an das große Mysterium des Lebens. Sie zeigen uns, dass wir nicht vor unseren Ängsten fliehen sollten, sondern sie annehmen müssen, um unser wahres Selbst zu finden. Denn der Drache ist nicht nur der Zerstörer, sondern auch der Erbauer.