Fortsetzung und Ende:
Das Märchen vom Drachen Nechard und dem Drachenfelsen in Königswinter
von Klaus Adolf Kreuzer
Wieder einmal war es der Drache, der Folda hetzte. Glühende Augen im Nebel, flatternde Schuppenflügel, Atem wie flüssiges Eisen. Folda rannte, stolperte, suchte verzweifelt nach einem Versteck. Doch bevor ihn der Tod erreichen konnte, erwachte er schweißnass, keuchend, mit wild klopfendem Herzen. Folda stieg aus seinem strohgefüllten Bett, trat hinaus in die frische Morgenluft und steckte seinen Kopf in den Waschzuber.
Das kalte Wasser schnitt wie ein Messer durch seinen Kopf, doch als er wieder auftauchte, war sein Geist klar. Nur das Echo des Traumes brannte leise in seiner Brust. Es war nicht der erste dieser Träume. Und Folda wusste tief in sich: Es würde nicht der letzte sein.
Gerade wollte er ins Haus zurück, da fiel sein Blick auf etwas Ungewöhnliches: Direkt vor seinen Füßen ragte ein seltsam geformter Stein aus dem aufgeweichten Boden. Schwarz, zackig, glatt. Ein violetter Schimmer lag auf seiner Oberfläche, und eingraviert waren vier Linien. Eine Rune. Sie war ihm fremd und doch… vertraut.
Folda hob den Stein auf, und im selben Moment änderte sich der Wind. Ein Rabe krächzte vom Firstbalken. Der Stein wurde warm in seiner Hand. Er konnte ihn nicht loslassen.
Die Rune trug den Namen „Rit“. Das erfuhr er von Eva, der Wala des Dorfes. Sie wusste es, noch bevor er anklopfen konnte. „Die Rit hat dich gefunden“, sagte sie. „Die Rune der Reise. Nicht nur durch die Welt, sondern durch dich selbst.“
Wenig später stand Folda seinem Großvater gegenüber. Gran, der Schmied, sagte nur: „Zeig mir den Stein.“ Als Folda ihm Rit gab, öffnete der Alte eine eiserne Truhe. Darin lag ein Schwert, umwickelt von Leinen und Schweigen. Am Knauf: die Rune Kaun. Feuer. Prüfung. Foldas Vater hatte es getragen. Und Gran sagte nur: „Es ist soweit.“
Drei Wochen währte die Ausbildung Foldas im Dorf Retniwsginök, und jeder einzelne Tag war gezeichnet von Stahl, Rauch, Runenfeuer und schmerzender Erkenntnis. Die Luft vibrierte in dieser Zeit zwischen Aufbruch und Gefahr, zwischen Vergangenheit und dem, was kommen musste.
Erste Woche: Stahl und Erinnerung
Im Morgengrauen hämmerte Gran die letzte Unebenheit aus der Klinge, die einst Foldas Vater getragen hatte. „Er fiel mit deinem Namen auf den Lippen,“ sagte der alte Schmied und reichte Folda das Schwert, dessen Knauf die Kaun-Rune trug. Der Junge nahm es mit bebender Hand.
Die ersten Übungsstunden fanden auf dem Dreschplatz statt. Folda war zu langsam. Der Stahl war schwer. Er stolperte, fiel, schnitt sich. Der Schmerz war neu. „Heldentum,“ knurrte Gran, „wird nicht in Liedern geboren, sondern im Staub.“
Nachts begann der Dorfplatz zu glimmen. Eine der schützenden Runen war aufgerissen. Rotes Licht drang aus der Erde. Die Alten flüsterten. Folda schwieg. In ihm wuchs der Gedanke: „Ich lasse meine Eltern nicht umsonst gestorben sein.“
Zweite Woche: Runen brennen
Nun trat Eva hinzu. Am Nachmittag zog sie Folda an den Waldrand. Dort ritzte sie mit einem Stab Kaun, Rit, Is in den Staub. „Rufe sie.“ Folda zögerte. Sprach sie leise. Eva schnaufte: „Laut, Junge. Diese Zeichen kennen keine Scheu.“
Als er sie schrie, flackerte die Luft. Folda wurde zurückgeschleudert, der Staub kreiselte wie Rauch. „Worte sind Waffen“, sagte Eva. „Du musst sie mit Klarheit schleudern.“
In jener Nacht sah Folda Nechard, den Sohn Rinfafs. Der Drachen. Schlafend in Stein. Sein Herz pochte im Takt seines eigenen. Folda erwachte mit bebender Brust. Die Rache wich langsam einer neuen Einsicht: Es ging um mehr.
Dritte Woche: Der Sturm rückt näher
Gran und Eva unterrichteten ihn gemeinsam. Ein Kampfparcours im Wald: Gran griff frontal mit dem Schwert an, Eva schleuderte Lichtblitze aus Runenenergie. Folda musste spüren, woher der Angriff kam. „Nicht sehen,“ rief Gran, „Fühlen!“
Doch dann veränderte sich etwas bei Folda.
Er begann zu sehen, bevor Gran schlug.
Er begann zu fühlen, wann Eva ihre Energie veränderte.
Er begann zu ahnen, was die Runen wollten, wenn sie aufleuchteten.
Eines Morgens war der Dorfplatz voller Raben.
Sie saßen auf den Dächern, den Brunnenrändern, dem Galgenbalken – und schwiegen. Ein Zeichen. Eva kam zu ihm, blickte in den Himmel und sagte: „Lednerg hat deinen Geruch aufgenommen. Er wird kommen.“
Gran legte ihm das Schwert in die Hand. „Du wirst nicht warten. Du wirst ihn suchen. Geh. Denn wer den Drachen nicht sucht, wird sein Schatten.“
Die Tiere flohen. Der Himmel wurde dunkler. Die Schutzrunen begannen zu flackern. Der Boden vibrierte in der Nacht. Folda kniete sich auf den Dorfplatz, legte das Schwert quer auf seine Handflächen, ritzte mit seinem Blut die Rit-Rune ins Parier.
„Ich werde nicht weichen.“
Am Ende der dritten Woche zersprang die zentrale Schutzrune. Feuerfunken stiegen aus der Erde. Am Horizont erschien ein schwarzer Flügel. Eva sprach mit bebender Stimme: „Jetzt beginnt deine wahre Prüfung.“
Und in der nächsten Nacht hörte das Dorf den ersten Drachenschrei seit dreißig Jahren.
Die Träume vom Drachen wurden stärker. Und eines Nachts sah Folda mehr als nur Lednerg. Er sah Nechard, den Drachen, schlafend in der Höhle im Drachenfels. Sein Herzschlag war der seine. Folda wusste: Er war verbunden.
Dann, eines Morgens, füllte sich der Dorfplatz mit Raben. Eva sprach: „Lednerg hat deinen Geruch. Er wird kommen.“ Gran legte ihm das Schwert in die Hand: „Du wirst ihn suchen. Geh. Denn wer den Drachen nicht sucht, wird sein Schatten.“
So begann Foldas Reise.
Noch bevor Foldas Ausbildung begann, in der Nacht nach dem Fund der geheimnisvollen Kiste, war er kopflos in den dunklen Wald gelaufen. Die Angst, die Verantwortung, das drohende Schicksal hatten ihn aus dem Dorf getrieben. Dort, im Unterholz, fand er Nerthor.
Der Zwerg hing kopfunter in einer Falle,die ein Wilderer vergessen hatte, schimpfend, zappelnd. Verdammtes Ungeziefer!“, rief er, „Hilf mir hier raus, Menschling!“
Folda, selbst verloren und voller Zweifel, baute aus Ästen ein wackliges Podest und befreite den kleinen, bärtigen Gefangenen. Nerthor rappelte sich auf, schüttelte den Schmutz aus seinem Bart und sagte dann: „Du hast mir das Leben gerettet. Ich vergesse das nicht. Rufe meinen Namen, wenn du mich brauchst. Die Zwerge des Siebengebirges stehen zu ihrem Wort.“
Folda nickte, sagte nichts. Doch etwas in ihm war ruhiger geworden. Als er später zurückkehrte und seine Ausbildung begann, hatte er Nerthors Versprechen tief in seinem Herzen vergraben – als Erinnerung, nicht als Hoffnung.
Am Ende der dreiwöchigen Ausbildung stand Folda also am Waldrand, das Schwert an der Seite, der Rit-Stein über der Brust, die Schatten tief, die Runen glühend. Er rief: „Nerthor! Sohn der Steine! Ich rufe dich.“
Zuerst war nur Stille. Dann das Rascheln von Laub. Ein leises Fluchen. Und schließlich polterte Nerthor zwischen den Bäumen hervor, mit einem Hasen im Arm und einem kleinen Stück Zweig im Bart.
„Musst du immer so laut rufen, wenn ich gerade esse?“
Folda lächelte. „Du hast es versprochen.“
„Ich weiß. Und ich halte mein Wort.“
Hinter Nerthor tauchten weitere Gestalten auf – Zwerge in dunklen Rüstungen, mit breiten Schultern, scharfen Äxten und noch schärferen Zungen.
Der eine, dicklich und mit einem übergroßen Kochtopf auf dem Rücken, grummelte: „Ich bin Bombur. Wenn du hungrig bist, bist du mein Freund.“
Ein anderer, hager und mit einem dürren Bart, sagte trocken: „Ich bin Dawlin. Ich trinke lieber, als ich rede.“
Der dritte, ein junger, aufgekratzter Kerl, sprang vor Folda und grinste breit: „Ich bin Hurm. Wenn’s kracht, bin ich nah.“
Und ich bin Bargroth, der jüngste hier, ich nehme mit was ich kann, blickte suchend umher, ein bischen seltsam..
Nerthor brummte: „Das ist meine Sippe. Nicht hübsch, aber zuverlässig. Und wir schulden dir was. Also gehen wir mit dir. Wohin auch immer.“
Folda nickte. Gemeinsam begaben sie sich auf den Weg zum Drachenfels. Das Abenteuer konnte beginnen.
Bombur sagte auf halber Strecke: „Wenn wir dem Drachen nicht das Maul stopfen, koch ich ihm Suppe aus seinen eigenen Schuppen.“
Dawlin murmelte: „Nur wenn du vorher nicht uns kochst.“
Hurm lachte. „Wenn ihr zwei euch streitet, räum ich den Schatz alleine ab.“
Und Nerthor sagte nur trocken: „Wenn das so weitergeht, brauch ich mehr Pfefferminzschnaps.“
So zog Folda los – mit Mut, mit Freunden, und mit der Erinnerung daran, dass selbst ein Schritt ins Ungewisse leichter ist, wenn man ihn nicht allein geht.
Die Wanderung zum Drachenfels
Der Weg zum Drachenfels war lang, feucht und voller Tücken. Folda, Nerthor und die übrigen Zwerge stapften durch morastige Senken, kletterten über bemooste Wurzeln und glitschige Felsen. Der Nebel hing schwer zwischen den Bäumen, und selbst Bombur schwieg eine Weile – bis er ausrief:
„Wenn das hier so weitergeht, muss ich mir bald Moos zwischen die Zehen klemmen.“
Hurm lachte laut. „Du meinst, um weicher zu treten oder leiser zu fluchen?“
Bombur fauchte zurück: „Damit ich dich nicht mehr höre.“
Dawlin schnaufte. „Hört auf zu streiten. Der Boden wird wärmer. Wir nähern uns dem Herz des Felsens.“
Tatsächlich begann der Rit-Stein um Foldas Hals erneut zu glimmen. Ein leises Pulsieren gegen seine Haut, wie ein lebendiges Herz. Nerthor bemerkte es und sagte ernst: „Nicht mehr weit. Bald beginnt der Prüfpfad. Und was dort lebt, ist älter als unsere Lieder.“
Sie rasteten unter einem Felsüberhang. Bombur kochte aus dem letzten Hafer, den Brennnesseln und einem Ei pro Zwerg schmackhafte Taler, die selbst Dawlin ein Lob entlockten. Folda aß schweigend, den Blick auf die Rauchschwaden gerichtet, die aus dem Drachenfels stiegen. Ein Zeichen, dass etwas in Bewegung war.
Währenddessen im Dorf
Zur gleichen Zeit flackerte auf dem Dorfplatz das rote Licht der Runen IRKUK. Eva und Gran, die die Zeichen als erste sahen, eilten zum Gemeinschaftshaus. Dort holte Gran das Gjallarhorn und blies es über den Platz.
Der Ruf hallte durch die Gassen, rief die Bewohner zusammen. Eva sprach laut: „Der Drache ist erwacht. Frauen und Kinder – in den Wald, zum Steinbruch. Ihr kennt den Weg. Die anderen – bereitet Speere, Bolzen, Runen.“
Gran stellte sich neben sie, das Schwert in der Hand. „Wir halten die Linie. Und wenn wir fallen, dann auf Runen, nicht auf Knien.“
Schon bald stieg am Horizont ein dunkler Schatten auf. Lednerg kam. Rauchend, knurrend, drohend. Der Himmel selbst schien zu zittern.
Eva trat in den Kreis der IRKUK-Runen und rief die Zeichen laut. Leuchtende Linien zogen sich über den Platz. Gran legte Runenzeichenschreiend an die Häuser, verstärkte die Schutzzeichen.
Als Lednerg über den Fluss Niehr hinweg das Dorf umkreiste, rief er mit donnernder Stimme: „Gebt mir den Jungen. Oder ihr brennt.“
Eva schritt vor. „Er ist fort. Und du hast kein Recht mehr über dieses Land.“
Mit einem Schrei stürzte sich der Drache herab – und wurde vom Runenschild zurückgeworfen. Die Dorfkrieger feuerten mit Armbrüsten ihre Bolzen und warfen die Speere, die Wala schleuderte die Rune Sol in seinen Bauch – sie prallte ab, aber ließ Lednerg aufbrüllen.
Lednerg spie Feuer und setze mehrere Häuser in Brand und versengte viele Krieger mit seinem Feueratem. Die Wala rief nochmals die Runen IRKUK als Prallschild auf und traf ihn voll, Lednerg wurde zurückgeschleudert, getroffen wich er zurück. Noch nicht geschlagen, aber verwundet. Lednerg drehte noch eine Runde über das Dorf spie Feuer und zog ab Richtung Drachenfels. Das Dorf stand. Nicht ohne Narben, doch nicht gebrochen.
Zurück im Wald
Folda blickte in den Himmel. Der Wind trug den fernen Ruf eines Horns zu ihm. Und er wusste – es hatte begonnen.
Nerthor stand neben ihm. „Dein Dorf lebt noch. Aber das wird nicht lang so bleiben. Zeit, den Weg in den Fels zu suchen.“
Gemeinsam standen sie auf. Der Pfad zum Drachenfels wartete nicht. Und in den Tiefen ruhte eine Wahrheit, die älter war als Krieg – und mächtiger als Feuer.
Der Verrat und der Angriff der Wildschweine
Die Gruppe hatte gerade einen steilen Abhang überwunden, als der Rit-Stein an Foldas Hals plötzlich heiß wurde. Nicht warm – heiß, als läge ein Funke darunter. Nerthor hielt inne. „Rit warnt dich“, sagte er mit rauer Stimme.
Da kam das Grollen – tief, bodenerschütternd. Dann brach das Dickicht auseinander. Wildschweine. Nicht gewöhnliche, sondern Wächtertiere Lednergs: rotäugig, mit schwarzen Borsten und Hauer wie Dolche.
„Verdammter Drachendreck!“, rief Bombur, „das sind keine Zufallsbegegnungen. Das ist eine Falle!“
Die Zwerge bildeten sofort einen Halbkreis. Folda hob das Schwert. Die Kaun-Rune am Knauf begann zu leuchten.
„Halt die Stellung!“, rief Nerthor.
Die Tiere stürmten los. Folda schleuderte Runen in die Luft – Kaun, Rit, Is – doch erst als er laut rief: „IRKUK!“ – erhob sich ein brennender Schild um ihn. Ein Wildschwein prallte gegen die magische Barriere und wurde zurückgeworfen.
Die Zwerge kämpften wie Besessene. Bombur schlug mit seinem großen Kessel den Schweinen auf den Kopf, dass ihnen die Ohren schlackerten. Hurm schwang zwei Hämmer, Dawlin biss einem Tier ins Ohr. Doch plötzlich – Bargroth, der jüngste Zwerg, war verschwunden.
„Bargroth?!“, rief Nerthor.
Keine Antwort. Folda spürte, wie der Rit-Stein noch immer pulsierte. Etwas stimmte nicht.
Der Feuerangriff auf der Lichtung
Die Gruppe erreichte kurz darauf eine Lichtung. Bargroth tauchte wieder auf, zerzaust, angeblich hatte er sich verirrt. „Hier ist gut, hier lagern wir“, sagte er. Doch Nerthor runzelte die Stirn. „Diese Lichtung kenn ich nicht.“
Folda trat ein paar Schritte zurück – da spürte er es. Der Rit-Stein vibrierte wie im Sturm. Zu spät.
Ein Bersten durchzuckte die Erde. Rauch, Glut, dann Feuer – und ein Trugbild von Lednerg erhob sich mitten aus der Lichtung: nicht der Drache selbst, aber sein Wille, seine Hitze, seine Klauen.
„Verräter!“ rief Nerthor. Bargroth grinste – und verschwand im Schatten des Waldes.
Folda schleuderte erneut IRKUK – Runenblitze schossen aus seinen Händen. Die Erscheinung Lednergs wurde getroffen, doch antwortete mit einem Flammenstoß. Folda hob die Arme – der Mantel von Rinfaf sog die Hitze auf, verwandelte sie in Licht.
„Zurück!“, brüllte Nerthor. „In die alte Höhle am Nordhang!“ Dort wohnt Dirka, sie kennt sich hier in der Gegend besser aus, als ich in meinem Voratskeller.
Als sie am Hang ankamen trat Dirka, eine gedrungene Zwergin, auf den Pfad. „Folgt mir – und wer jammert, bekommt eine Wurzel in den Hals!“
Unter ihrer Führung kämpften sie sich durch Gestrüpp und Hang, die Bestien im Nacken. Folda schleuderte eine Kaun-Rune in den Boden – Feuer schoss empor, verbrannte zwei der angreifenden Tiere.
Endlich erreichten sie die Höhle. Dirka riss einen Moosteppich herunter, der verdeckte den Eingang. Die Gruppe war erschöpft, verwundet – aber lebendig.
Und Folda wusste: Der Verrat war kein Zufall. Lednerg hatte sie längst im Blick.
Der verborgene Weg in den Berg
Die Gruppe bahnte sich vorsichtig ihren Weg entlang eines schmalen Kamms, bis Folda innehielt. Der Rit-Stein glomm sanft – ein leises Leuchten, das seinen Blick zu einem verwachsenen Felshang zog. „Dort…“ murmelte er.
Sie traten näher, und Nerthor entdeckte eine Reihe unnatürlich geformter Steine, als wären sie einst gesetzt worden. Dawlin scharrte das Moos zur Seite – eine Runenlinie wurde sichtbar. „Verborgener Durchgang“, murmelte Nerthor. „Das ist der Weg.“
Mit vereinten Kräften schoben sie einen schweren Brocken zur Seite. Dahinter öffnete sich ein Tunnel, hoch, breit, trocken und alt – älter als jedes Gedicht der Zwerge.
Der Gang führte sie tief in den Berg hinein. Die Luft wurde heißer. Schließlich standen sie vor einer Wand aus lebendigem Feuer. Dahinter ein gewaltiges Tor, schwarz wie Obsidian, eingerahmt von Drachenschuppen.
Nerthor sah Folda an. „Du musst es tun. Nur du.“
Folda trat an das Feuer heran. Der Mantel von Rinfaf begann zu leuchten, sog die Flammen ein wie Atem. Er schritt durch die Feuerwand. Dahinter fand er fünf eingelassene Vertiefungen – genau für die Edelsteine aus der Kiste.
Einer nach dem anderen setzte er sie ein. Farben flackerten durch die Höhle. Als der letzte Stein saß, zog er den goldenen Schlüssel hervor, setzte ihn in das uralte Schloss – und drehte.
Ein Grollen ging durch den Felsen.
Das Erwachen Nechards
Das Tor öffnete sich langsam, als würde der Berg selbst ausatmen. Dahinter lag eine Halle – groß wie ein Dom, geschmiegt in Fels, durchzogen von glühenden Adern.
In ihrer Mitte: Nechard.
Ein gewaltiger Drache, silbergrau, seine Flanken von Ascheschimmer überzogen.
Er lag da wie ein Teil des Berges, schlafend, aber nicht vergessen. Seine Schuppen zuckten im Rhythmus seines Atems. Seine Augen – noch geschlossen – träumten von Licht. „Wer wagt es, mich zu stören? Ist es wieder ein gieriger Trupp auf der Suche nach Gold?“
Die Zwerge wichen zurück. Folda aber trat vor. „Ich bin Folda. Sohn des Dorfes Retniwsginök. Dein Vater Rinfaf hat mich gesandt.“
Ein Zucken ging durch Nechards Augen. Nicht Erstaunen. Nicht Misstrauen.
Erinnerung. „Rinfaf… mein Vater. Der Brennende. Es ist lange her, dass sein Name in dieser Halle gesprochen wurde.“
Folda berichtete was er erlebt hatte und sagte, „Lednerg bedroht mein Volk. Nur du kannst ihn aufhalten.“
Der Drache richtete sich auf, seine Stimme wie Donner. „Lednerg… der Gefallene. Er weiß nicht zu vergeben.“
Folda sprach: „Er muss aufhören. Oder alles endet.“
Menschlein „Du bist jung. Doch du trägst mehr als Mut. Du trägst Erinnerung.“
„Ich bin bereit“, sagte Folda leise.
Nechard neigte den Kopf. „Dann fliegen wir. Der Himmel wird entscheiden.“
Der Kampf der Drachen
Mit einem gewaltigen Flügelschlag erhob sich der Drache und ging durch den großen Tunnel – den gleichen, durch den Folda und die Zwerge gekommen waren.
Die Zwerge und Folda folgten ihm.
Ein Beben ging durch den Berg. Nechard entfaltete seine mächtigen Schwingen und stieg mit einem Brüllen aus dem Tunnel empor. Folda und die Zwerge folgten ihm an die Oberfläche – zum Hang des Drachenfelsens, wo Lednerg bereits auf sie wartete.
Die beiden Drachen prallten in der Luft aufeinander. Klauen trafen Schuppen, Feuer gegen Feuer, Gebrüll zerriss die Luft. Der Himmel wurde schwarz vom Rauch, die Erde bebte. Folda und die Zwerge suchten Deckung hinter einem Felsvorsprung, während der Kampf tobte.
Ein letzter Aufschrei – dann stürzte Lednerg, schwer getroffen, aus der Luft und schlug hart auf dem Boden auf. Sein Flügel war gebrochen, sein Bauch entblößt.
Foldas Entscheidung
Folda trat aus dem Schutz hervor, das Schwert in der Hand. Er näherte sich dem gefallenen Drachen. Die Kaun-Rune glühte. Er hob die Klinge.
„Für meine Eltern. Für das Dorf. Für alle, die du getötet hast.“
Doch dann – Bilder. Wie Schatten auf Wasser: das Lächeln seiner Mutter, die Hand seines Vaters, Gran am Amboss, Nerthor in der Falle, das Feuer, die Angst, das Mitgefühl. Worte hallten in ihm, etwas Größeres in ihm sprach – nicht mit Stimme, sondern mit Wahrheit:
Alles Lebende und Fühlende ist: Ewig – Unsterblich – Universell – Unendlich.
Und nun wusste Folda, was die Wala des Dorfes gemeint hatte: Nicht Mut, sondern Erinnerung wird siegen. Denn wir werden immer wieder neu, alt geboren – um zu wachsen.
Wir tun Gutes, Böses, Schlimmes – wer weiß, wann wir es taten oder tun werden?
Folda zitterte – und senkte das Schwert.
Lednerg blickte ihn an – verwundert. Dann schloss er die Augen. Keine Feindschaft. Nur Müdigkeit.
Das Ende des Zorns
Nechard trat neben ihn, hob einen mächtigen Flügel und legte ihn sanft um Folda. „Du hast dich selbst überwunden. Das ist mehr als Sieg. Es ist Wahrheit.“
Er neigte sich zu Lednerg. „Du wirst nicht länger kämpfen. Du kommst mit mir – in den Raum des Vaters. Um zu heilen.“
Die Wolken teilten sich. Sonnenlicht fiel auf den Felsen. Folda stand still – das Schwert in der Hand, aber nicht im Herz des Feindes.
Die Runen IRKUK leuchteten fern auf dem Dorfplatz. Und über allem lag Frieden – zum ersten Mal seit hundert Jahren.
Epilog: Die Heimkehr
Tage später kehrte Folda in das Dorf Retniwsginök zurück. Die Bewohner hatten bereits von der Entscheidungsschlacht gehört – der Himmel hatte gesprochen, und die Runen hatten geleuchtet.
Eva stand auf dem Platz und begrüßte ihn mit einem stillen Blick. „Du hast verstanden, Folda.“
Gran trat aus der Schmiede, Tränen in den alten Augen. „Dein Vater wäre stolz.“
Folda hob und senkte das Schwert vor den beiden. „Ich danke euch. Doch ohne Nerthor und seine Gefährten… wäre ich nie soweit gekommen.“
Da ertönte ein fröhliches Poltern – Nerthor, Bombur, Hurm, Dawlin und Dirka traten aus dem Schatten eines Baumes, den Rucksack voll mit Kräutern, Steinen – und Geschichten.
„Ihr Menschen kocht furchtbar, aber ihr seid doch ganz in Ordnung“, knurrte Bombur.
„Die Welt hat sich bewegt“, sagte Nerthor. „Und wir waren dabei.“
Die Zwerge wurden Ehrenfreunde des Dorfes, Folda aber blieb – als Hüter der Runen, als Bewahrer der Erinnerung, und als der Junge, der einst das Schwert senkte – und damit eine Welt rettete.
Und wer heute aufmerksam durch das Siebengebirge wandert, kann vielleicht – ganz oben auf dem Drachenfels – eine Höhle finden, verborgen zwischen Wurzeln und Fels. Dort, so heißt es, ruht noch immer ein großer, schimmernder Drache. Ob es Nechard ist? Wer weiß das schon.
Nur eines ist sicher: Retniwsginök, das seltsam klingende Dorf, liest sich rückwärts wie Königswinter. Und wer die Augen und das Herz offenhält, spürt vielleicht, dass die alten Geschichten niemals ganz vergangen sind.